Vom unruhigen Tanz der Chupa Chups, fünf Tagen Brombeerzeit und einem Duett in der Stille der Nacht

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Das Doppelbildnis "Vom unruhigen Tanz der Chupa Chups, fünf Tagen Brombeerzeit und einem Duett in der Stille der Nacht" zeigt das Paar Margarete (*1923) und Nikolaus (*1929).

Nikolaus ist ein Bruder meines Großvaters. Er wuchs somit als eines von sieben Kindern, im übrigen allesamt Brüder, in der Pfalz auf. In Kaiserslautern arbeitete er am Hochofen der Bahn.
Margarete kommt aus Linz in Österreich. Aus einer Ehe mit einem Steinmetz, ihr Mann verstarb, hat sie eine Tochter namens Marita. Mittlerweile ist sie bereits Urgroßmutter geworden. Margarete arbeitete in einer Zuckerfabrik und verdiente zusätzliches Geld als Haushaltshilfe.
Nikolaus und Margarete lernten sich in den 70er Jahren kennen. Seither leben sie gemeinsam, heute in einem Haus in Franken, nahe Würzburg.

Margarete, so wie ich sie als Kind erlebt habe - das heißt Erntezeit: Zwetschgen, Äpfel, Brombeeren, Stachelbeeren, Erdbeeren. Wir pulen die trockene Erde von den Früchten, der Saft rinnt, die Sonne brennt herunter und es schmeckt herrlich. Mit den bloßen Füßen tappen wir über die nackte, krümelige Erde und ernten Zwiebeln. Die Erde färbt die Fingernägel dunkel. Die langen, dürren Halme knacken und rascheln, so trocken sind sie geworden. Ein Knistern begleitet Margarete stets wie eine Aura. Sie ist immer aktiv, rastlos, unruhig. Ihre Kartoffeln sind schon gesetzt, der Acker mit dem großen Spaten umgegraben, bevor andere überhaupt den Plan dazu gefasst haben.
Später wird das Obst eingekocht, wird zu farbiger, in allen Rotschattierungen glühender Marmelade. Manches findet seine Veredelung in Schnaps. Die klar schwappende Flüssigkeit wird in riesige Glasgefäße abgefüllt, die mit bunten Farben bemalt sind. Und auch dieses Ergebnis wird verwertet, zusammen mit Nikolaus. In dicken Schwaden wabert der Kochdampf durch die Küche. Abends wird gehäkelt. Volksmusik dröhnt aus dem Fernsehen.

Erneut wiedergetroffen habe ich Margarete und Nikolaus Anfang 2010, anlässlich einer Beerdigung in Hamburg. Man sieht Nikolaus an, dass er krank ist, aber er erzählt nicht viel darüber, will nicht jammern. Vor allen Dingen hat er abgenommen, die Haut ist blass, er wählt seine Worte mit Bedacht. Er achtet darauf, dass seine Hemden immer sauber und akkurat sind, die Knöpfe, der Kragen, die Falten, alles muss stimmen. Auch die Hosenträger werden sorgfältig ausgerichtet. Margarete ist nun permanent und rastlos unterwegs, läuft ohne Ende umher. Sie räumt auf und um, steckt Dinge, die ihr gut gefallen, wie einen Esel aus Bast, in ihren Koffer. Gestricktes, Gesticktes, Gehäkeltes mochte sie schon immer. Sie versteht nicht mehr und ist doch Mensch. Sie kennt nur noch einen, zu dem sie gehört: Nikolaus. Alles und alle anderen sind ihr fremd geworden. Nachts muss man die Zimmertür abschließen, damit sie nicht ganz aus der Wohnung entschwindet. Doch auch so rennt sie manchmal in unachtsamen und unübersichtlichen Momenten hinaus in die Kälte und weiß auf einmal nicht mehr, wo sie herkam. Manchmal sucht sie Rauhaardackel Axel. Mit ihm unternahmen die beiden früher lange Spaziergänge im Wald, urlaubten in Fuerteventura.
Jede Unterhaltung führt man jede Minute neu mit ihr. Sie behält nichts davon. Gut funktionieren klassische Themen, auf die sie die Antworten noch weiß: wie es geht, wie das Wetter ist. Und es ist immer noch schwer, ihrem starken Österreichisch zu folgen. Ihre Stimmung schlägt manchmal schnell um. Nikolaus bleibt lieb und geduldig. Er ist der ruhende Pol. Das war er schon immer.
Was Margarete nicht vergessen hat ist, wie gerne sie isst. Die Mahlzeiten werden zum Höhepunkt. Würste, Obst, Käse, Brot, ein Gläschen Wein: alles wird vertilgt. Nur einmal, als auf der Kaffeetafel eine Pralinenpackung steht, denkt sie, dies sei das Mittagessen: die Gastgeberin habe gespart. Dabei wollte sie lieber Kartoffeln haben. Mürrisch knistert sie aus der Cellophanpackung die Schokolade heraus.

Zuhause, so erzählt Nikolaus, ist es jeden Tag so. Zusammen kochen sie, bearbeiten den Garten, renovieren das Haus - eben so gut sie können. Die Reise nach Hamburg war eine große Aufgabe, Margarete drohte besonders beim Umsteigen ständig wegzulaufen. Nikolaus muss ständig gut auf sie aufpassen. Es liegt eine große Zärtlichkeit in dem, was er tut, wie er spricht.
Gleich geblieben sind: Ihre arbeitenden und seine großen, ruhigen, schützenden Hände.

Seeheim-Jugenheim 2010


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