Demenz

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Es ist ein kurzer Absatz mit kleinen Buchstaben im Lexikon, nüchtern eingeklemmt zwischen "Dementi" und "Demeter": Klassifziert, filetiert und seziert auf der Grundlage der gesammelten Daten und Fakten eingeteilt in verschiedene Stufen und Gattungen, bezeichnet mit medizinisch-lateinischen Namen, römisch nummeriert.

Ein Kreis streuselnder alter Damen sitzt in der Mitte der weißen leeren Gänge, auf dem Tisch trockener Krümelkuchen. Der Boden ist weiß, die Wände sind weiß, die Teller sind weiß. Angst, Verwirrung und Einsamkeit schweben durch den Raum. Die Löffel klappern kreisend unbeholfen in der dunkelbraunen Flüssigkeit. Der Diätzucker klumpt und sinkt nach unten. Langsam kauend, schluckend, bedächtig mit Kaffee heruntergespült verschwinden die letzten Krümel. Besorgt, gar fürsorglich. Es bleiben nur Fragen: ungefragt, ohne Antwort.

"Ivanka schön! Ivanka immer schön!" sagt sie mit ihren rot lackierten Fingernägeln. Sie friert trotz der Sonne, die draußen täglich ihre Bahnen zieht.

Bertha wandert in den Gängen zum Fenster, zur Tür, zum Fenster, zur Tür, zum Fenster, zur Tür: Alles schreit vorwärts zur Tür, die die Freiheit verspricht, ohne Sprache, aber ihre Blicke erzählen von tausend mal tausend Leben. Eine kleine zupfige Wolke schiebt sich langsam über die Weiten des Himmels, tüpfelklein und bauschig, so bauschig wie der kleine Bogen im "B" von Bertha, den man langsam mit der Fingerkuppe nachfährt, doch die Wolke ist so unheimlich weit oben, unwirklich vor dem Blau. Sie zieht langsam und beklemmend lautlos in die Ferne und spiegelt sich klar und immer kleiner in den Pupillen am Fenster. Es war nichts und doch - alles.

"Welcher Tag ist heute?" fragt Frau L., "der 31.?". Der Hund mit den krausen Locken legt seinen Kopf auf ihr Bein. Ein wilder Purpurbüffel zieht brummend vorbei. Der Mann an der Wand knittert ohne Pause seine Röhren aus Papier. Tick Tack, Tick Tack. "Da war doch ein junges Kind da, gestern, ein Knabe von nur 10 Jahren." Sie sitzen und warten, warten und sitzen. In der Tiefe des verschwiegenen Zuckermeeres trippelt und trappelt ein Gespensterkrabbenballett. "Es war einmal", sagt er, ein Tanz der Flügel ohne Fäden. "Ich kenne mich nicht mehr", sagt sie, und vergisst dann auch dieses kleine Stückchen Satz. Unter dem fallenden Sternenregen leuchtete die Stille perlend. Auch die Stille hat einen Klang.

Gertrud hat einen Hut, einen schwarzen Hut, der ist so groß wie ein Bergkäse. Der Tag war so schön, so schön wie jeder andere Tag. Sie summt leise, so leise wie der Morgenwind im Gras wispert. Aus ihrer flauschigen Weste strahlt sie glitzernd das Lächeln eines ganzen Sommers. Sie kehrt über den teerigen Weg zurück. Gekostet hat sie von einem zünftigen Bier. Hat sie es bezahlt? Sie hält die Hand vor den Mund vor überraschung, kichert und weiß nicht mehr so genau, wie alt sie ist. Sie rechnet und kommt auf 88. Davon ist sie ziemlich beeindruckt.

"Die Armen, Armen, ..." flüstert Dina zu den geschlossenen Türen, die ihr Geheimnis bergen. Sie hakt sich ein, marschiert den Gang hoch und runter und schmettert ihre Lieder und lacht.

Die Porträtierten leben in der Demenzstation des Seeheim-Jugenheimer Altenzentrums.

Seeheim-Jugenheim 2012


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Letzte Projektthemen

Zu den beiden letzten Projektthemen gehören die Themen "Tattoo" und "Demenz".